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Familienstellen und Tantra

Die Frage nach den Zusammenhängen und Gemeinsamkeiten von Familienstellen und Tantra taucht immer wieder auf. So will ich an dieser Stelle - ohne Anspruch auf Vollständigkeit - einige meiner Erfahrungen dazu teilen.

Tantra wird übersetzt aus dem Sanskrit तन्त्र, "Gewebe, Kontinuum, Zusammenhang". Im systemischen Familienstellen betrachten wir die individuellen Beziehungen eines Systems (Familie, Clan, Team). Tantra als "Gewebe" bezeichnet das Netzwerk sozialer Bindungen. Beim Familienstellen beleuchten wir den "Zusammenhang" dieser Ver-Bindungen. Letztlich betrachten wir beim Familienstellen nicht nur eine Momentaufnahme, sondern erleben das Netzwerk der Beziehungen eines Systems in seiner "kontinuierlichen" , lebendigen Veränderung.

Wer gehört zum Familiensystem?Als Mensch erlebe ich mich in dieser Welt ständig in Beziehung. Es beginnt bei der Beziehung zu mir selbst, wenn ich morgens in den Spiegel sehe. Mit jedem Wort, jeder Geste, jeder Berührung gehe ich mit anderen Menschen in Beziehung. Und jedes Wort, jede Geste, jede Berührung  verändert eine Beziehung - lässt sie wachsen oder schrumpfen. Für einen Tantriker bedeutet das einen bewussten, neugierig-experimentiellen und gleichzeitig achtsamen und respektvollen Umgang mit diesen Beziehungen. Auf allen Ebenen des Seins.

Beziehungen prägen unser Leben. Ohne Beziehungen ginge der Mensch zugrunde. Andererseits sind viele Beziehungen auch konfliktbehaftet, obwohl sie es nicht sein müssten. Mögliche Ursachen für schwierige Beziehungen sind Gewissenskonflikte im Zusammenhang mit anderen Systemen. Zum Beispiel kann eine neue Partnerschaft nur schwer gedeihen, wenn die voraus gegangene Partnerschaft nicht gewürdigt wird.

Sexualität als "Sonderform" einer Beziehung birgt ein mehrfaches Potential für mögliche Konflikte. Zum einen, weil Sexualität immer noch als Tabu in unserer Gesellschaft Veränderungsprozesse beschleunigt. Weiterhin hat die Ausübung sexueller Handlungen Auswirkungen auf alle Gewissensebenen: persönliches (Schuld und Unschuld), kollektives (Moralvorstellungen) und geistiges Gewissen ("Einklang" mit dem "Größeren"). Besonders im Kontext von Tantraseminaren stossen wir immer wieder auf Gewissenskonflikte und Verstrickungen mit dem eigenen Herkunftssystem (Familie, Vater, Mutter, Groß- und Urgroßeltern) und dessen Werten.

Schließlich der für heute letzte Punkt der Gemeinsamkeiten von Tantra und Familienstellen: die "Anbindung an das Größere". Sowohl als Tantriker (Praktizierender oder Ritualleiter), wie auch als Aufstellungsleiter befreie ich mich von Vorstellungen "wie es zu sein hat". Keine menschliche Vorstellung kann die unenendliche Vielfalt möglicher Lösungen abbilden. Stattdessen vertraue ich auf meine Anbindung an ein größeres Wissen und stelle mich als "Kanal" zu Verfügung. In meiner Diplomarbeit "Familienstellen und Sexualität" habe ich es so beschrieben:

"Es braucht dafür einen persönlichen Reife- und Bewusstwerdungsprozess, der die Beschränkungen durch das persönliche und kollektive Gewissen nach und nach auflöst. Ich könnte den Zustand des Einklangs mit dem göttlichen Willen, oder der „großen Seele“ auch als Gewissenlosigkeit bezeichnen. Denn in der Tat können wir uns im Zustand des Einklangs als frei von jeglicher Verstrickung durch das persönliche (Wertungen) oder kollektive (Unbewusstheit) Gewissen erleben, sorgenfrei und in Liebe verbunden mit allem was ist. Diese Liebe überwindet alle Grenzen, ist also grenzenlos."

Familienstelle und Tantra